Anmerkung zu diesem Text
Gemeinschaftsprojekt  von traumreisende und lilly-rose. Die kursiv dargestellten Zeilen sind
geschrieben und gesprochen von  TRAUMREISENDE
 

UFERFARBEN

 

Wieder quetscht er den letzten Farbrest aus der Tube. Rot, immer fehlt ihm Rot. Die dunklen Töne dieses Morgens haben keine Spur davon, und doch ist die Tube leer. Wäre der Wind noch stärker, hätte er Angst, er würde jede filigrane Kontur des Bildes verwischen, bis nichts mehr davon zu erkennen wäre. Er lächelt sanft, glücklich, als er den letzen Pinselstrich macht, behutsam seine über die Jahre von Terpentin und Lösungsmittel rissigen Hände den feuchten Rahmen der Leinwand berühren, und er das Bild auf die regennassen Pflastersteine der um diese Jahreszeit fast menschenleeren Uferpromenade legt.

Seit sie vor einem halben Jahr in diese Stadt gezogen war, hatte sie viele Wege ausprobiert, um von ihrer kleinen Mansardenwohnung zu ihrer neuen Arbeitsstelle zu kommen. Warum sie schon seit Wochen immer wieder diesen Weg an der Uferpromenade ging, hätte sie niemandem erklären können. Er war von allen Varianten der Längste. Und in den letzten warmen Tagen des Jahres der Lauteste. Laut vor allem an den Sommerabenden, wenn die wie ein Fluss aus Leibern strömenden Urlauber die Ufer säumten.  Aber nach Stunden in den sterilen Wänden ihres Bürogebäudes nahm sie die quirlige bunte Masse und manch unsanfte Rempler gern in Kauf. Sie fühlte sich selbst wie ein Besucher. Das Wort Zuhause kam noch nicht über ihre Lippen. Für sie war dieser abendliche Rückweg oft wie ein Kino durch das sie ging, und doch fühlte sie sich wie in die hinterste Reihe versetzt.  

Zufrieden macht er zwei, drei Schritte zurück, um sein Bild aus der Entfernung zu betrachten. Ein wunderschöner, sonnenüberfluteter blauer Stein, so groß, dass er bequem Platz bietet um sich darauf der Länge nach auszustrecken, umspült vom warmen Nass klaren Wassers. Ein wohliges Gefühl umfließt ihn.

Sie musste ihn schon oft wahrgenommen haben. Denn heute Abend fiel ihr auf, dass er Mantel und Schal trug. Einen roten Schal. Vielleicht war ihr deshalb sofort die Veränderung bewusst. Auf dieser Seite des Flusses saßen die Straßenmaler manchmal so nah , als wäre das ganze Ufer ein einziges Atelier.

Seine Blicke ertasten die vier bis fünf Meter des kargen Bodens, auf denen er seine Bilder ausgelegt hat. ‚Ob es daran liegt, dass er immer wieder diesen Stein malt, dass kaum ein Mensch stehen bleibt?’ Manchmal glaubt er, nein, er ist sich sicher, ein abwertendes, fast spöttische Kopfschütteln in den Gesichtern der Passanten und Touristen zu entdecken, wenn sie, ihre Schritte kaum verlangsamend, an seinen Bilder vorbeilaufen.  

Sie sah sich oft die vielen verschiedenen Bilder an, nur die Bilder, und vermied den Blickkontakt zu den Künstlern. Und doch hätte sie genau beschreiben können, wo die Karikaturisten sitzen, oder an welcher Stelle die leichtesten Aquarelle zu finden sind. Sie meinte sogar zu wissen, wann ein schon lange verkauftes Bild plötzlich wieder in Kopie angeboten wurde.

Der Regen klebt  ihm seine langen Haare strähnig auf die Wangen. Der schwere Rotwein des Abends macht das Malen nicht leichter, doch es stört ihn nicht. Blind, ohne Hände könnte er dieses Bild malen.

Seine Bilder nannte sie in Gedanken oft „der blaue Stein“. Immer wieder das gleiche Motiv, die Promenade, vereinzelte Konturen von Menschen, die  Uferböschung  und der Stein. Sie hatte sich schon oft gefragt, warum er diesen Findling immer blau malt, denn gleich welche Jahreszeit, nie lässt das Spiel von Sonne und Regen, Licht oder Schatten seine Oberfläche in dieser Farbe erscheinen.

Sie lauschte verwundert dem Klang ihrer eigenen Worte:
 „ Würden Sie mich malen?“

Er zuckt förmlich zusammen, so versunken war er in dieser Stille, in dieses leise Rauschen, welches so liebkosend um die glatte, starke Hülle spült. Er hatte ihre Frage nicht wahrgenommen, wenngleich sie ihm wie ein Echo durch den ganzen Körper jagte. Ohne sie anzusehen, dringt ein kaum hörbares „Nein“ über seine Lippen, nur um sich im nächsten Moment wieder von ihr abzuwenden und auf einer neuen Leinwand die Umrisse, seine geliebten Umrisse zu malen.

Er weiß, er spürt es. Ihre Stimme klingt wie das tiefe Blau seiner immer gleichen Bilder. ‚Was hat sie gerade gesagt?’ Unsicher, scheu blickt er zu ihr. Er legt den Pinsel aus der Hand. ‚Wann hat er das zum letzten Mal gemacht?’ Plötzlich schämt er sich für seine Hände, er stellt sich vor, wie weh es ihr tun müsste, würde er ihr Gesicht damit berühren. Erschrocken über seinen Gedanken, wendet er sich wieder ab.

 „In welcher Farbe würden sie mich malen?“

Er lässt seine Blicke über alle Bilder gleiten, und immer an der gleichen Stelle, immer an diesem kleinen roten Klecks, hält er für einen Moment inne.